Galactose-Wirkung bei der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ 2)

Es gibt vier verschiedene Arten von Zuckerkrankheiten:

  1. Diabetes mellitus Typ 1: Zerstörung der ß-Zellen des Pankreas, daher keine Insulinbildung (immunologisch bedingt, meist angeboren oder Zerstörung durch ein Trauma, z. B. Verkehrsunfall)
  2. Diabetes mellitus Typ 2: Insulin-Resistenz (“Zuckerkrankheit“)
  3. Diabetes durch hormonelle Störungen, z. B. Überproduktion oder Überdosierung von Cortisol,  oder durch verschiedene Toxine oder Arzneimittel
  4. Schwangerschaftsdiabetes

Häufigkeit

Der Diabetes mellitus Typ 2 ist eine der häufigsten Erkrankungen des Menschen überhaupt, an der manifest oder latent (noch nicht diagnostiziert) nahezu 8% der Deutschen mit steigender Tendenz  leiden. Für die Behandlung und für die Folgekosten bringen die Krankenkassen über ein Viertel ihrer Erstattungsbeträge auf. Oft ist die Zuckerkrankheit mit dem sehr häufigen metabolischen Syndrom verknüpft, das aus Übergewicht, hohen Blutfettwerten (Hyperlipämie), Hypertonie und Hyperurikämie (Gicht) besteht. Die Häufigkeit zuckerkranker Personen nimmt in unserer Wohlstandsgesellschaft stetig zu. Bei der engen Verknüpfung zwischen Diabetes mellitus Typ 2 und der Fettsucht ist mit einem weiteren Anschwellen zu rechnen. Da bereits 15% der Schulkinder durch Fehlernährung zu dick sind, wird diese gewaltige Belastung für die Gesundheit des Einzelnen wie für die Volkswirtschaft immer gravierender.

Ursache

Beide Stoffwechselbelastungen zeigen eine gemeinsame hormonelle Störung: die Resistenz gegenüber Insulin. Das bedeutet, dass wohl genügend Insulin in den ß-Zellen der Bauchspeicheldrüse gebildet wird und im Blut zirkuliert, aber von den Zellen der Zielorgane (besonders Muskulatur und Fettgewebe) nicht mehr erkannt werden kann. Dadurch kommt es einerseits zu einem intrazellulären Glucosemangel, andererseits zu einem Anstieg der Glucosekonzentration im Blut, da wegen dieser Resistenz Glucose nicht mehr in diese großen Organe transportiert werden kann. An den ß-Zellen der Bauchspeicheldrüse führt deren Insulin-Resistenz vermutlich zu einer Minderung der intrazellulären Glucose-Konzentration mit nachfolgender Störung der Regulation der Insulinbildung und –sekretion. Die ß-Zellen werden unkontrolliert zur Produktion von immer mehr Insulin angeregt, was mit der Zeit zu ihrer Verkümmerung und damit zu einem Insulinmangel führt. Im Falle der Muskulatur äußert sich der Mangel an Glucose in rascher Ermüdbarkeit. Im Fettgewebe kann sich ein intrazellulärer Glucosemangel in einer Fehlregulation der Bildung von Organ-spezifischen Hormonen (Leptin?) äußern, die Rückwirkungen auf die Bauchspeicheldrüse haben kann. Gefährlich wird der Mangel im Zentralnervensystem mit dem Gehirn und seinen wichtigen Arealen, in denen lebenswichtige Funktionen gesteuert werden, wie Appetit, Hungergefühl, Kreislauf, aber auch das Gedächtnis. Wie kommt die Insulin-Resistenz zustande? Für die Erkennung von Insulin ist eine Antenne in den Zelloberflächen der Zielorgane notwendig, es ist der Insulin-Rezeptor (Abb. 1). Nur wenn Insulin durch ihn erkannt wird, kann dieses Peptidhormon seine Information in die Zelle bringen. Seine Information lautet: Transport des intrazellulär in Bläschen (Vesikeln) gelagerten Glucosetransporters 4 (GLUT4) in die Zelloberfläche. Nur seine Präsenz in der Zelloberfläche ist die essentielle Voraussetzung für die Aufnahme von Glucose in die Zielzelle. Biochemisch wird die Insulin-Resistenz durch eine relativ kleine Modifikation am Rezeptor hervorgerufen, durch die Anheftung eines Aminzuckers (N-Acetylglucosamin) an ein Serin des intrazellulären Anteils des Insulin-Rezeptors. Diese neue wegweisende Erkenntnis einer metabolischen Proteinmodifikation wurde von der Gruppe um G. Hart, Baltimore (USA), gewonnen.

Verlauf und Folgen

Der Diabetes mellitus Typ 2 entwickelt sich schleichend über Jahre. Sein frühzeitige Erkennung (vermehrtes Durstgefühl und Wasserlassen, Müdigkeit, Schwäche, Sehstörungen, schlechte Wundheilung) ist wichtig wegen häufiger Folgekrankheiten. Sie betreffen Gefäßschädigungen (Beingangrän, Herzinfarkt), Nervenschädigungen, Augenschädigungen, Nierenschäden (bis zur Urämie) und Fettstoffwechselstörungen. Außerdem ist das Krebsrisiko bei Diabetikern gegenüber Gesunden deutlich erhöht, was vermutlich mit der Beeinträchtigung des Immunsystem zusammenhängt, da auch die Wundheilung beim Diabetiker gestört ist und eine höhere Infektanfälligkeit vorliegt.

Therapie

Diese Form des Diabetes zählt zu den sogenannten Wohlstandskrankheiten, wie auch die Gicht, die in Hungerzeiten (z. B. nach den beiden. Weltkriegen) selten oder gar nicht angetroffen werden oder wurden. Daher steht eine ausgewogene Ernährung an erster Stelle. Für eine ausgewogene Ernährung gilt das Stichwort „mediterrane Kost“ mit viel Gemüse. Zusätzlich ist eine regelmäßige körperliche Aktivität notwendig.Überraschenderweise hat sich die perorale Einnahme von Galactose bei Diabetes mellitus Typ 2 bewährt. Warum Galactose, die mit Glucose eng verwandt ist? Zwischen beiden Monosacchariden besteht im Aufnahmemechanismus durch die Zielzellen ein großer Unterschied: Galactose muss von den Organen nicht über das Insulin-Rezeptor-System und damit den Glucosetransporter (GLUT4), sondern unabhängig von ihm über einen Insulin-unabhängigen Zuckertransporter (GLUT3). Dazu ist jedoch der Aufbau eines Konzentrationsgradienten zwischen Blut und Zelle notwendig.(Abb.) Abb.:  Transport von Glucose bzw. Galactose in eine Zelle.  Der Transport von Glucose erfolgt über das Insulin-Rezeptor-System. Insulin aktiviert die Verlagerung intrazellulärer Bläschen (Vesikel), die den spezifischen Glucose-Transporter 4 (GLUT4) tragen, in die Zelloberfläche. Nach seiner Integration in die Oberfläche kann Glucose aus dem Zelläußeren (Blut) in die Zelle transportiert werden. Bei einer Minderfunktion des Insulin-Rezeptors kann Glucose nicht mehr in ausreichender Menge in die Zelle transportiert werden. Dieser Hungerzustand kann durch Galactose behoben werden, die  n i c h t  Insulin-abhängig in die Zelle transportiert wird, über den Zuckertransporter GLUT3. Dazu ist jedoch ein ausreichender Konzentrationsgradient notwendig. Nachdem Galactose in die ß-Zelle der Bauchspeicheldrüse (über GLUT3) gelangt ist, wird sie rasch und quantitativ in Glucose umgewandelt, wodurch die ß-Zelle ausreichend mit ihrem essentiellen Nährsubstrat versorgt und wieder in der Lage ist, die Insulinbildung zu normalisieren. Auch in die anderen Insulin-abhängigen Zellen, wie Muskulatur (Skelett und Herz), Fettgewebe, zentrales Nervensystem, Knochen, Haut, kann Galactose Insulin-unabhängig transportiert werden, Dadurch wird der Bedarf an Insulin gesenkt. Zur Prüfung empfiehlt sich die Messung geeigneter Laborparameter wie die Blutzucker-Konzentration und das C-Peptid (einem Abbauprodukt einer Insulinvorstufe). Gerade erschien eine Publikation, in der gezeigt wird, dass das Fettgewebe durch Galactose abgebaut werden kann. Ein weiterer Vorteil der Galactose: Durch ihre Einnahme wird die Blutzuckerkonzentration nicht erhöht, was mehrfach gezeigt werden konnte. Dadurch wird ihre Anwendbarkeit bei Diabetes mellitus Typ 2 möglich. Grund: Die intrazellulär gebildete Glucose wird nicht abgegeben, sondern der Überschuss wird als Glykogen gespeichert, dem wichtigen intrazellulären Energiespeicher. Als Speicher in der Muskelzelle ist Glykogen eine wichtiges Energiequelle, z. B. für Leistungssportler. So neu ist der erfolgreiche Einsatz von Galactose beim Diabetes mellitus Typ 2 nicht. Bereits in den frühen 30er-Jahren wurde an der Charité Galaktose in hoher Dosierung bei zuckerkranken Patienten in fortgeschrittenem Stadium eingesetzt; sie litten bereits an der Ketonämie (Obstgeruch in der Atemluft). In seiner Publikation schrieb der junge Assistenzarzt Hans Kosterlitz (verkürzt): Die Ketonämie wurde vollständig zurückgebildet und der Blutzuckerspiegel änderte sich trotz hoher Galactose-Gabe nicht. Außerdem wurde ein Protein-sparender Effekt gemessen. (Offenbar wird aus Galactose vermehrt Aminosäuren gebildet oder die Proteinsynthese stimuliert.) Leider konnte Kosterlitz diese überraschend guten Erfahrungen mit Galactose klinisch nicht mehr weiter führen, da er Deutschland verlassen musste. Später wurde sie nicht mehr beachtet.

Dosierung

Für den Aufbau des Konzentrationsgradienten zwischen Blut und Zelle muss eine relativ große Menge Galactose eingenommen werden, etwa 10g pro Tag. Galactose kann nicht durch die sehr viel preiswertere Laktose (Milchzucker) ersetzt werden, da, erstens, etwa 10% der Europäer (weltweit 25% der Menschen) an der Milchunverträglichkeit leiden (Laktoseintoleranz) und, zweitens, das verantwortliche Laktose-spaltende Enzym, die Erwachsenen-Laktase, zu wenig aktiv ist, um eine ausreichende Menge an Galactose aus der Laktose freizusetzen. Galactose wirkt jedoch nur, wenn eine ausreichende Konzentration im Blut erreicht wird. Die Einnahme von Galactose muss ärztlich betreut werden, damit der Insulinbedarf reguliert werden kann, z. B. Messung der Blutzuckerkonzentration und des C-Peptids. Es besteht jedoch nicht die Gefahr des gefährlichen hypoglykämischen Schocks (von dem sehr viele Insulin-pflichtige Diabetiker betroffen sind und häufig sterben), da aus Galactose intrazellulär die lebenswichtige Glucose gebildet wird.

Dr. med. Werner Reutter (* 5. Februar 1937 in Hornberg; † 28. Mai 2016)

Professor (em.) für Biochemie und Pathobiochemie Institut für Biochemie und Molekularbiologie
Charité Universitätsmedizin Berlin
Arnimallee 22
14195 Berlin-Dahlem