In jüngster Zeit wurden bisher nicht bekannte positive Eigenschaften von Galactose bekannt. Galactose ist der Schwesterzucker zur Glukose (Traubenzucker). Er unterscheidet sich strukturell nur wenig von Glukose. Wenn man sich Glukose wie eine Hand mit ihren fünf gestreckten Fingern vorstellt, so ist Galactose wie eine Hand, bei der der Daumen abgewinkelt ist. Beide sind also gleich groß, nehmen aber einen unterschiedlichen Stoffwechselweg, wegen diesem Unterschied am Daumen. Galactose kommt in der Milch vor und dort im Milchzucker oder der Laktose. Laktose besteht zu gleichen Teilen aus Glukose und Galactose. Galactose ist für den Säugling lebenswichtig. Das besorgt ein Verdauungsenzym im Dünndarm, die Laktase; es spaltet Laktose in Glukose und Galactose. Sie wird zum Aufbau der Zellen und Organe benötigt, da alle Zellen von einer schützenden Membran umgeben sind, die zu einem entscheidenden Teil aus Zuckern, besonders Galactose, besteht. Zunächst zur Glukose. Sie ist das einzige Nährsubstrat für das zentrale Nervensystem, also auch und besonders für das Gehirn. Es benötigt 100 bis 150 Gramm Glukose pro Tag. Im Gesamtblut sind jedoch nur 5 Gramm vorrätig; das Gehirn ist daher auf die laufende Zufuhr angewiesen. Wenn sie nicht durch die Nahrung reicht, hilft die (fast) alles könnende Leber, die Glukose aus dem Proteinabbau gewinnen kann.

Der alles entscheidende Schritt ist nun: Wie kommt Glukose in die Nervenzellen? Hört oder liest man Glukose, da denkt man gleich auch an das Hormon Insulin. Doch wie wirkt Insulin, denn es schwimmt ja im Blut um die Zellen herum? Wie kommt es an die Zelle? Wie kann Insulin die Zelle für Glukose öffnen? Dazu hat die Natur die Zelle mit einer Antenne, einem Sensor, ausgestattet, der Insulin erkennt. Er ist hochspezifisch. Hat diese Antenne, auch als Rezeptor bezeichnet, Insulin erkannt, leitet er ein Signal in das Zellinnere. Dieses Signal trifft auf kleine Bläschen, die auf ihrer Oberfläche bestimmte Prote ine (Eiweiße) besitzen, die Glukose transportieren können (als GLUT 4 bezeichnet). Im Zellinneren sind sie inaktiv. Durch die Vermittlung von Insulin werden sie von innen in die äußere Membran gebracht, d. h. sie werden Bestandteile der Zellmembran. Und jetzt können sie die Glukose, die die Zelle umschwimmt, in die Zelle hineintransportieren. In der Zelle dient dann Glukose, erstens, der Gewinnung biologischer Energie (Stichwort ATP) und, zweitens, dem Aufbau der Zelle. Daher ist sie für die Nervenzellen essentiell. Andere Zellen können auch Amino säuren oder Fett säuren anstelle von Glukose für solche Vorgänge des Energie- und Baustoffwechsels verwenden. Nicht so das Zentralnervensystem (und die roten Blutkörperchen). Die Achillesferse für die ausreichende Glukoseversorgung, man ahnt es vielleicht schon, ist die Antenne für Insulin, der Insulin-Rezeptor. Neue Untersuchungen haben gezeigt, dass er bei der Alzheimer’schen Krankheit geschädigt ist. Insulin kann nicht mehr seine Funktion (Regulation des Glukose-Transports) ausüben. Dadurch ist die Versorgung des Gehirns mit der lebenswichtigen Glucose gravierend vermindert. Das Gehirn hungert. Dieser Hungerzustand steht am Anfang der Alzheimer’schen Krankheit.

Als Folge dieses Hungerzustand entwickeln sich die gefürchteten Plaques (mit dem beta Amyloid), die sich außerhalb der Zelle befinden, die Zellen einengen, und innerhalb der Zelle bilden sich Fibrillen oder Tangles, die intrazelluläre Funktionen behindern. Damit ist die Grundlage für die Beeinträchtigung einer zentralen Hirnfunktion, der Ausbildung der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses, gelegt. Erwähnt sei bei diesen krankheits fördernden Vorgängen ein Protein, das als tau bezeichnet wird; seine Funktion ist abhängig von der Anheftung von Zucker oder Phosphat. In Deutschland leiden über eine Million Menschen an der Alzheimer’schen Krankheit, mit steigender Tendenz (übrigens wurde der Erstbeschreiber Alois Alzheimer 1864 in Marktbreit in Franken geboren und hat die Krankheit erstmals 1901 diagnostiziert). Nach dem langen aber notwendigen Vorspann werden Sie sich zu recht fragen: Wie soll jetzt der Hungerzustand beseitigt werden, dessen entscheidende Bedeutung schon der Heidelberger Neurowissenschaftler Siegfried Hoyer vor über 25 Jahren erkannt hat? Zur Behandlung muss an den Wurzeln angepackt werden und das ist die Linderung oder Beseitigung eben dieses Hungerzustandes, Und wie? Durch die Gabe von Galactose. Und warum Galactose und nicht Glukose? Glukose scheidet aus, da sie für die Aufnahme Insulin benötigt, und der Insulin-Rezeptor ist ja bei Alzheimer geschädigt (s.o.). Galactose hingegen benötigt für die Aufnahme durch die Zelle k e i n Insulin, keinen Insulin-Rezeptor. Galactose gelangt über einen Kanal (als GLUT3 bezeichnet) in die Zelle. Die treibende Kraft ist kein Hormon (Insulin mit GLUT 4), sondern ein Konzentrationsgradient. Offenbar hat die Natur eine Hintertür gelassen, durch welche die Zellen des Zentralnervensystems versorgt werden können. Die Kenntnis dieser Eigenschaft war offenbar bisher nicht wichtig und geriet daher in Vergessenheit. Sie wurde erst in jüngster Zeit als wichtiges Charakteristikum von Galactose wieder erkannt. Galactose kommt Insulin-unabhängig in die Hirnzellen (s. o.). Doch was dann? Kein Problem.

Alle Zellen haben Enzyme, die rasch und quantitativ aus Galactose Glukose umsetzen (wurde von dem Argentinier Leloir beschrieben, der dafür den Nobelpreis erhielt). Nun steht über einen Bypass Glukose wieder in ausreichender Menge zur Verfügung. Der Energie- und Bau (oder Leistungs)-Stoffwechsel kann wieder ungestört ablaufen. Galactose kann die Symptome der Krankheit je nach Stadium lindern, die Krankheit selbst kann sie nicht beseitigen. Daher ist ein früher Beginn mit der Einnahme der Galactose anzuraten. Für Sparsame, Vorsicht, nicht den sehr viel preiswerteren Milchzucker (Laktose) anstelle der Galactose einnehmen. Laktose muss (s. o.) im Dünndarm erst gespalten werden. Als Säuglinge haben alle Menschen eine spaltende Laktase. Sie verschwindet im Erwachsenenalter und wird durch die Erwachsenen-Laktase ersetzt, aber nicht bei allen Menschen. Sie leiden dann an der Milchunverträglichkeit, der genetisch erworbenen Laktose intoleranz. Daran leiden weltweit 25%, in Deutschland nahezu 10%. Die Gefahr an den schmerzhaften Symptomen wie Völlegefühl, Darmkrämpfe, Durchfall und Blähungen nach Laktose-Einnahme zu leiden, ist daher sehr groß. Anmerkung: Zwischen der Alzheimer’schen und der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ II) bestehen zwei wichtige Gemeinsamkeiten. Erstens, erkranken Diabetiker häufiger an Alzheimer und, zweitens, liegt beiden Erkrankungen ein gemeinsamer Defekt zugrunde. Er betrifft den Insulin-Rezeptor. Bei Alzheimer ist es der Insulin-Rezeptor des Zentralnervensystems, beim Diabetiker ist es der Insulin-Rezeptor der ß-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Daher wird neuerdings die Alzheimer’sche Krankheit als Diabetes mellitus Typ III bezeichnet.

Dr. med. Werner Reutter (* 5. Februar 1937 in Hornberg; † 28. Mai 2016)

Professor (em.) für Biochemie und Pathobiochemie Institut für Biochemie und Molekularbiologie
Charité Universitätsmedizin Berlin
Arnimallee 22
14195 Berlin-Dahlem